Trendbriefing: Mehr Convenience versus mehr Nachhaltigkeit

Früher kamen Zukunftstechnologien oft sehr dystopisch daher. Wenn die neuesten Entwicklungen aber dabei helfen, den Hunger in der Welt abzuschaffen, das Energieproblem zu lösen und ganz nebenbei noch passgenaue Marktanalysen anzufertigen, sieht es schon viel positiver aus. Die Entwicklung ist allerdings so rasant – und die politische Entwicklung so unvorhersehbar – dass weiter gesunde Skepsis angebracht ist.

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Dr. Marc Schumacher widmet das SHIFT Briefing by TRENDBÜRO den neuesten gesellschaftspolitischen und technischen Entwicklungen, die unsere Gesellschaft beeinflussen werden. Diesmal trifft es sich besonders gut, dass im Titel das „don’t“ durchgestrichen ist und den Vortrag zweideutig macht: Mittlerweile weiß man nämlich einfach nicht mehr, was man glauben soll und was nicht. Schumacher nennt es „Widerspruch im System“.

Es wird also von den Menschen keine Systemfrage gestellt, aber sie tun immer widersprüchlichere Dinge. Ein Beispiel: Auf der einen Seite wird die Klimakrise als das größte Problem überhaupt angesehen. Auf der anderen Seite zählt in Krisenzeiten erst einmal das Ich. Und so sind plötzlich Einwegzigaretten mit Einwegbatterie das neue große Ding, obwohl man sich kaum umweltschädlicher um die Gesundheit bringen kann. „Mehr Convenience versus mehr Nachhaltigkeit – das wird uns weiter beschäftigen“, kündigt Schumacher an.

Ebenso verwirrend: Das Konsumklima stürzt ab, der Glaube an die Rezession ist groß, doch die Deutschen machen sich auf zum nächsten Reise-Weltmeistertitel und verprassen kollektiv noch einmal richtig viel Geld. Pauschalanbieter machen Werbung damit, dass in der Ferne alles günstiger ist: Warum den Gasherd in der heimischen Küche bedienen, wenn ich auf Mallorca gut essen gehen kann?

Das 1,5 Grad-Ziel? Hinter vorgehaltener Hand schon gelaufen, keine Chance, es noch einzuhalten. Entspannung auf dem Arbeitsmarkt? Nicht sichtbar. Viele Branchen, so hat es das Trendbüro analysiert, werden dauerhaft unterbesetzt bleiben. Die Loyalität am bestehenden Arbeitsplatz lässt weiter nach, nur noch 14 Prozent der Arbeitnehmer sagen, dass sie sich für ihre Firma wirklich committed fühlen. Die einzige Lösung zur Rettung der Volkswirtschaft: massive Zuwanderung. Und das in Zeiten von AfD und im Mittelmeer sterbenden Flüchtlingen.

Schumacher präsentiert zwar auch einige schönere Kacheln – zum Beispiel reicht die Energiegewinnung durch Solarpanels immer näher an jene der Atomkraftwerke heran – aber sein Fazit lautet dann doch: „Ich schaue das erste Mal ängstlich nach vorne.“

Mit dem Digital Evangelist Lukas Pierre Bessis schwingt das Pendel in die andere Richtung und Optimisten konsumieren mit Freude sein Wissens-Destillat, das Bessis aus der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Denkern mit bahnbrechenden Ideen gewinnt. In seiner Keynote „Mensch 2035 – wir Superhumans“ fallen Sätze wie: „Die Lebenserwartung von 120 Jahren ist safe, an den 1000 Jahren wird noch gearbeitet.“ Oder: „Wir haben bald, wenn wir wollen, Chinesisch im Hirn. Als Download.“ Dank Prozessoren im Gehirn.

Weil sich die technologischen Möglichkeiten in exponentiellem Tempo weiterentwickelten – sein Stichwort dazu ist das Mooresche Gesetz zur Entwicklung der Rechenleistung von Computern – können wir mit unserem kleinen, linear funktionierenden Gehirn gar nicht begreifen, was schon bald möglich ist: In der Medizin sei die Diagnostik kurz davor, jeglichen körperlichen Schaden reparieren zu können. „Wer die nächsten zehn Jahre überlebt, wird 120“, fasst er zusammen.

Weitere Errungenschaften, die dank High Tech auf der Überholspur wohl schon bald die Märkte revolutionieren: VR-Brillen, oder eben auch Kontaktlinsen. Das Herz oder die Lunge aus dem 3D-Drucker, körpereigene Zellen sind sozusagen die Tinte hierfür. Aus Mikroben gewonnene Proteine, die zum Wachstum keine Agrarprodukte benötigen, sondern Wasserstoff (aus Strom) und Kohlendioxid (aus der Luft). Drohnen, die durch den Abwurf von Samen am Tag 100.000 neue Bäume pflanzen können. Oder Chips im Kopf, die Querschnittsgelähmte wieder gehen und Blinde wieder sehen lassen (Letzteres ist sogar schon gelungen).

Es wird schnell deutlich, dass bei all diesen potentiell umwälzenden Entwicklungen immer auch gleich moralische und juristische Nachfragen mitschwingen. Das gilt auch für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Wirtschaft, ganz speziell in der Marktforschung. Karl Sponholz, Gründer und CEO von XPAI, arbeitet mit seinem Team in Berlin daran, den Erfolg von physischen Events zu messen – auf der Basis von Mimik und Sprache.

Wenn Freude und Ärger, Wohlbefinden oder Missfallen, kurz: die Emotionen der Kunden bewertet werden können; wenn obendrein diese Menschen durch Gesichtserkennung kategorisiert werden können, hat der Händler plötzlich enorm viel neue, exklusive Möglichkeiten. So könnte man zum Beispiel im eigenen Store die interne Werbung, die Musik oder auch die Raumtemperatur anpassen, wenn sich gerade nur Männer dort aufhalten; man könnte auch seine eigene Marketing-Analyse betreiben, in dem man mit dem von XPAI entwickelten experience score analysiert, wie Sales-Ideen und Produkte beim Kunden ankommen – die teure, aufwändige und oftmals artifizielle Marktanalyse wird dann vielleicht schon bald Geschichte sein.

Der Clou bei XPAI: Die Berliner Tech-Pioniere haben ein Patent angemeldet, das es ermöglicht, diese Daten auch legal sammeln zu dürfen – weil die Gefahr des Datenmissbrauchs auf ein Minimum reduziert wird.

Ist die Zukunft nun also schwarz oder rosarot? Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Und auch, wenn die drei Vorträge nicht komplett auf einer Wellenlänge liegen, eine Gemeinsamkeit haben die Keynotes dann doch: Die Technologie ist da, man muss nur zugreifen! Noch nie haben Vordenker so viele Chancen gehabt, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Frage ist, was die Menschheit daraus macht.